Bibliothek

Der Ort des kontrollierten räumlichen Verlierens

Der Ort des kontrollierten räumlichen Verlierens

Ort // Berlin, Deutschland

Programm // Bibliothek

Einerseits sollen die Funktionen das Suchen, Ausleihen sowie das Lesen klar und überschaubar sein. Andererseits sollen auch labyrinthartige Rückzugsgebiete und Ruhepole geschaffen werden, die es erlauben sich mit den, und in den Bücher zu verlieren. STÄDTEBAU Die in Berlin übliche Blockrandbebauung wurde eingehalten. Die einzelnen Geschosse verschieben sich zueinander als Zeichen eines lebendigen Ortes. FASSADE Belüftete Klimadoppelfassade mit solargesteuerten Glaslamellen. Lärmschutz zur S-Bahn, Reduzierung des Heiz- und Kühlungsenergieverbrauchs durch die hinterlüftete Doppelfassade. Die Beschattungslamellen werden mittels Solaranzeiger automatisch in die richtige Position gedreht. Dadurch ergibt sich ein permanent wandelndes Erscheinungsbild. KONSTRUKTION Stahlbetonskelettbau ca. 6x6m Stützenraster mit Massivdecke. Die Verschiebungen der Geschossplatten werden als Auskragungen gerechnet. Die Decke auf Ebene +11m wird als Stahlbetonplattenbalkendecke (100cm Konstruktionshöhe) ausgeführt. Sie erlaubt eine möglichst stützenfreie Terrassenebene. „Das Universum, das andere die Bibliothek nennen, setzt sich aus einer undefinierten, womöglich unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen, mit weiten Entlüftungsschächten in der Mitte, die mit sehr niedrigen Geländern eingefasst sind Erstes Axiom: Die Bibliothek existiert ab aeterno. An dieser Wahrheit, aus der unmittelbar die künftige Ewigkeit der Welt folgt, kann kein denkender Verstand zweifeln. Der Mensch, der unvollkommene Bibliothekar, mag vom Zufall oder von böswilligen Dämonen bewirkt sein, das Universum, so elegant ausgestattet mit Regalen, mit rätselhaften Bänden, mit unerschöpflichen Treppen für den umherwandernden und mit kleinen Stufen für den sitzenden Bibliothekar, kann nur durch einen Gott bewirkt sein. Um die Kluft, die zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen liegt, so recht zu ermessen, braucht man nur die zittrigen Zeichen, die meine hinfällige Hand auf den Einband eines Buches krakelt, mit den organischen Lettern im Innern zu vergleichen: gestochen, feingeschwungen, tiefschwarz, unnachahmlich symmetrisch stehen sie da. „ (Borges 1974, S. 47ff.) Im Gegenteil, antworte ich, wer sind wir denn, wer ist denn jeder von uns, wenn nicht eine Kombination von Erfahrungen, Informationen, Lektüren und Phantasien? ‚Jedes Leben ist eine Enzyklopädie, eine Bibliothek, ein Inventar von Objekten, eine Musterkollektion von Stilen, worin alles jederzeit auf jede mögliche Weise neu gemischt und neu geordnet werden kann.“ (Italo Calvino: Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. München: Hanser, 1991. 5.165)
Was ist eine Bibliothek? — Glaubt man Jorge Luis Borges, so wäre sie mit dem Universum, dem Kosmos gleichzusetzen, den niemand anderes als ein Gott geschaffen haben kann und dessen Schrift uns unerreichbar, unbegreiflich erscheint. Es wäre also gar nicht nach einer Bibliothek zu fragen, es bliebe nur festzustellen: Eine Bibliothek ist. Sie ist. Und das reicht. So betrachtet, erscheint es vermessen, eine Bibliothek nicht nur verstehen sondern auch noch entwerfen zu wollen, hieße das doch nichts anderes, als es dem Schöpfer gleichzutun und ein veritables Universum aus dem Boden zu stampfen. Bei aller Hybris der Naturwissenschaften der Gegenwart nötigt das jedoch wohl jedem, der des Nachts den Sternenhimmel betrachtet, zuviel Respekt ab, um sich an solcherart zu versuchen. Und so wäre der spannende Versuch, eine Bibliothek zu entwerfen an dieser Stelle mangels eigener Gottqualitäten zu beenden, gäbe es da nicht den Lichtblick, von dem uns Italo Calvino berichtet, indem er vom Gleichnis des Lebens mit einer Bibliothek erzählt. Folgt man diesem Gedanken, so erscheint eine weitere Dimension der Bibliothek, außer ihrer Unendlichkeit und Unerreichbarkeit: Sie zeigt sich in ihrer prinzipiellen Denkbarkeit durch sich selbst hindurch, durch unser Leben hindurch. Denn so unbegreiflich wir uns selbst als Menschen erscheinen, rätselhaft, unendlich, geworfen, um mit Heidegger zu sprechen, so leben wir doch, vielleicht in einer Art permanenten Annäherung an das prinzipiell Unfassbare in und vor uns. Zwei Dinge erfüllen das Germüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Uberschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz. Das erste fängt von dem Platze an, den ich in der äußern Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich Große mit Welten und Systemen von Systemen, überdern noch in grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren Anfang und Fortdauer. Das zweite fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit, an und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist, und mit welcher (dadurch aber auch zugleich mit allen jenen sichtbaren Welten) ich mich nicht wie dort in bloß zufälliger, sondern allgemeiner und notwendiger Verknüpfung erkenne. Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten <‘einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurückgeben muJ3, nachdem es eine kurze Zeit (man weiß nicht wie.) mit Lebenskraft versehen gewesen.
Der zweite erhebt dagegen meinen Werth, als einer Intelligenz, unendlich durch meine Persönlichkeit in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart, wenigstens so viel sich aus der zweckmäßigen Bestimmung meines Daseins durch dieses Gesetz, welche (sic, soll heißen: welches, Anm.) nicht auf Bedingungen und Grenzen dieses Lebens eingeschränkt ist, sondern ins Unendliche geht, abnehmen lässt. (Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. 1788. ~ In: Akademieausgabe 1902/10, 5. 161f., unveränd. Nachdruck: Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden. Band 3. Köln: Könemann, 1995, 5. 480f.) Ein die Sinnenwelt, d.h. ein die Erniedrigung der reinen Sinnlichkeit überwindendes, unabhängiges Leben, in seiner Unendlichkeit dem Kosmos ganz analog und genau dadurch mit ihm in Bewunderung und Ehrfurcht verknüpft: Gibt es eine treffendere Beschreibung eines idealen Bibliotheksraumes? Ist das die Idee einer, ja der Bibliothek? Wir stiegen erneut zum Skriptorium auf diesmal über die breite Treppe im Ostturm, die uns auch weiter zum verbotenen Oberstock führte. Während ich die Lampe hoch vor uns hertrug dachte ich an die Worte des greisen Alinardus über das Labyrinth und machte mich auf Entsetzliches gefasst. Überrascht stellte ich fest, als wir an den geheimnisumwitterten Ort gelangten, dass wir uns in einem nicht sehr großen fensterlosen Raum mit sieben Wänden befanden, in dem —wie übrigens im gesamten Oberstock- eine muffige, abgestandene Luft herrschte. Nichts, wovor man sich entsetzen musste. Aus dem Roman „Der Name der Rose“ von Umberto Eco